Brigitte Biografie, Ausgabe 1/2016

 

Fabulieren geht über Studieren

Anfangs wollte James Krüss Lehrer werden. Doch dann schrieb er lieber Verse und Kinderbücher, die sich bis heute millionenfach verkauft haben und in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden. Im Mai wäre er 90 geworden

 

Der Blonde aus dem Norden trug Lederhosen und einen roten Pullover. So erzählt es James Krüss’ Mentor Erich Kästner. Über ihre erste Begegnung 1949 in München schrieb der 27 Jahre ältere Meister, der junge Schreiberling sei „ohne Geld und voller Pläne“ zu ihm gekommen.

     James Krüss, gerade 23, hat kurz zuvor in Lüneburg das Lehrerexamen bestanden. Aber erziehen will er Kinder dann doch nicht, erst recht nicht mit dem Rohrstock, wie es damals üblich ist. Schon als Zehnjähriger hat er an der Volksschule auf seiner Heimatinsel Helgoland eine Schülerzeitung gegründet – aus Protest gegen einen Lehrer, der die Kinder in die Ohren kneift: „Die Kneifzange“, Preis: fünf Pfennige. Krüss will die Menschenkinder anders erreichen als mit Strenge: durchs Fabulieren. „Haltet die Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen“, so beginnt sein Buch „Sommer auf den Hummerklippen“. 

     Dass er dafür großes Talent hatte, eigentlich gar nicht anders konnte und die Geschichten nur so hervorsprudelten, sagte auch seine kürzlich verstorbene Schwester Erni Rickmers 2007 in dem 

Dokumentarfilm „James Krüss“: „Nachts wachte er auf, und dann erzählte er ellenlange Geschichten, sodass wir schon genervt waren und sagten: ,Nun halt doch endlich mal den Mund.‘“

     Vielleicht lag es am Erbe des Urgroßvaters, der schon Gedichte verfasste, 30, 40 Strophen lang. Vielleicht auch an diesem großen Kopf, der der Mutter am 31. Mai 1926 eine schwere Geburt beschert. James Jacob Hinrich ist das erste von vier Kindern von Margareta Krüss, Schneiderin und Hummerfischertochter, und ihrem Mann Ludwig, einem Elektriker. Die Hebamme, die auch den Blumenladen auf Helgoland betreibt, muss den Arzt rufen. Der soll James’ runden Kopf staunend angesehen und gesagt haben: „Entweder es wird ein Idiot oder ein Genie.“ Er habe sich dann, sagte der Schriftsteller später, fürs Genie entschieden. Sein erstes Gedicht schreibt er mit fünf Jahren – auf Friesisch, seiner Muttersprache. Hochdeutsch lernt er erst in der Schule. 

     Für einen, den sein Biograf und Freund Klaus Doderer, 92, als geselligen Einzelgänger beschreibt, für einen, der sein Leben lang mehr Fernweh als Heimweh hat, ist die Nordseeinsel auf Dauer nicht der richtige Ort. Obwohl er seine Eltern liebt, fühlt er sich eingeengt. In seinen Kriegserinnerungen blickt er auf seine Inselkindheit zurück: „Der Schritt begrenzt, der Blick unendlich. Maßvoll die Tage, die Träume maßlos. Und immer irgendwo der Vater, gutmütig, weich, bildungsbeflissen, aber voll Abwehr gegen Intellektuelle, die er fürchtete.“ Sie hätten sich „mehr wohlwollend geduldet als wirklich verstanden“.

     Bevor er selbst zum Intellektuellen wird und mit Büchern wie „Timm Thaler“ Millionenauflagen erreicht, muss er den Zweiten Weltkrieg überleben. Helgoland wird 1941 evakuiert, die Familie zieht nach Thüringen, später nach Sachsen. Im Spätsommer 1944 geht der Lehramtsanwärter – den sie in der Lehrerbildungsanstalt Hans nennen, weil das deutscher klingt – noch als Fahnenjunker zur Luftwaffe. Das militärische Brimborium verachtet Krüss, doch als Kind und bis zum Kriegende bewundert er Hitler, weil alle gebildeten Freunde der Eltern für den Führer sind. „Und da ich nach Bildung hungerte, hängte ich mich an diese Leute und ihre Überzeugungen.“ Nach dem Krieg hätten sich ihm Tausende Fragen aufgedrängt. Auch schlimme Erinnerungen klingen nach. Etwa an den Freund, der mit zerschossenem Kopf an ihm vorbeigetragen wurde.

     Nach der Kapitulation wandert er zu Fuß und per Rad allein von Böhmen zur Tante nach Hamburg. Helgoland ist militärisches Sperrgebiet, dorthin kann er nicht zurück, und er will es auch nicht. Nach der Insel, dem Internat und den Kasernen genießt er es, in dieser Zeit des Übergangs vogelfrei durch Deutschland zu wandern. „Befreit von Bindungen, die ich gehasst hatte, fürchtete ich neue Bindungen jeder Art, sogar die Liebe“, schreibt er. Eine Zeit lang arbeitet er neben seiner Lehrerausbildung an einer Zeitung für die Exil-Helgoländer und auch an einem Buch über eine Insel, die seiner Heimat Helgoland ähnelt. Doch die Sehnsucht nach einem anderen, freieren Leben ist groß und das Bedürfnis, für Kinder zu schreiben, „das offenste, weiteste, neugierigste und undoktrinärste Publikum der Welt“. Für diejenigen, „die vielleicht einmal bessere Menschen sind“. 1949 geht Krüss, angezogen von der literarischen Szene, nach München. Er wohnt im Garten bei Freunden, in einem umgebauten Bienenhaus. Für sein erstes Vorstellungsgespräch läuft er die 14 Kilometer von dort zur Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“ zu Fuß, in der Tasche: Verse für Kinder. Die Zeitung druckt sie. Doch der Auftrag, der sein Leben verändert, kommt von Erich Kästner, den er verehrt; er leitet in München das Feuilleton der „Neuen Zeitung“.

     Der junge Mann in rotem Pullover und Lederhose schlägt Kästner vor, sein Buch „Die Konferenz der Tiere“ als Hörspiel umzuschreiben, mit verschiedenen Sprechern, Geräuschen und Musik. Die Fassung gefällt Kästner so gut, dass er dem Jüngeren einige Türen öffnet, zum Rundfunk und zu seinem Agenten. Krüss habe neben seinem Talent auch Glück gehabt, schreibt Kästner. Das habe geholfen, die Laufbahn abzustecken. „Nur eben, laufen musste der junge Mann selber. Und wie er lief!“  

     Krüss’ Karriere entwickelt sich jetzt so fix, wie er selbst Verse schreibt – übrigens fast immer per Hand. Als er sich im Frühling 1954 vorstellt, fragt sich die Verlegerin Heidi Oetinger, ob da nicht eine Art jüngerer Bruder Astrid Lindgrens vor ihr stehe. „Er war blond und blauäugig (…) – er sah sehr jung aus –, und er sagte, er (…) möchte gern in dem Verlag seine Bücher veröffentlichen, der ,Pippi Langstrumpf‘ herausgebracht hat.“ Das erste Manuskript lehnt das Verlegerpaar noch ab, doch von „Der Leuchtturm auf den Hummerklippen“ sind sie begeistert. 1960 erhält Krüss die Deutschen Jugendbuchpreis für „Mein Urgroßvater und ich“. 

     Nach der Hörspielfassung zu Kästners politischer Fabel arbeitet Krüss, der das „R“ in seinem Namen helgoländisch rollt, auch fürs Radio, und von dort ist es nicht mehr weit zum Fernsehen. In der TV-Serie „Abc und Phantasie“ bringt er 1963 Kinder im Studio zum Dichten und Singen, und Krüss dichtet und singt mit. Durch seine Sendung „James’ Tierleben“ – einer Mischung aus Puppenspiel und Musikrevue über das Tierreich – avanciert der junge Mann mit den leicht abstehenden Ohren, den runden, blauen Augen und dem Grübchen im Kinn zum beliebten Fernsehonkel. Später schreibt er Lieder für Udo Jürgens’ Kindershow „Jenny und Jonny“. Krüss, der privat gern Feste feiert und große Runden bestens unterhält, versprüht nun auch im Fernsehen deutschlandweit gute Laune, reimt „Möpse“ auf „Schnäpse“, alle mögen ihn. Fast alle. 

     Krüss verdient gut. Das Bienenhaus hat er längst gegen ein Eigenheim in der Nähe des Starnberger Sees eingetauscht. Er hat zwar sieben Mal die praktische Führerscheinprüfung vergeigt, aber einen Austin-Healey kauft er sich trotzdem. Ein Freund chauffiert ihn. Schon 1964 sind drei Millionen seiner Bücher verkauft und in zwölf Sprachen übersetzt. 70 000 Mark verdiene er im Jahr, schreibt damals der „Spiegel“. Doch Krüss ist angreifbar, denn er ist schwul. Und Sex zwischen Männern steht in der Wirtschaftswunderzeit und noch bis 1975 unter Strafe. Anfang der 60er schreibt er in sein Tagebuch Sätze wie: „Liebte mich querbeet durch die westdeutschen Großstädte“ und: „Ein Jahr Unruhe, im Haus, beim Schreiben, in der Liebe“. Der 2010 verstorbene Maler Georg Hedrich, ein Freund von Krüss, sagte in einem Interview über den Autor, Krüss sei damals wegen seiner Homosexualität erpresst worden. Vom wem, lässt er offen. „Diese Leute" hätten mal Geld von Krüss gewollt, mal ein neues Auto. „Er wurde in München richtig ausgenommen.“ 

     Krüss, freiheitsliebend, zieht weiter nach Süden. 1965 kauft er sich ein Haus auf Gran Canaria, am Rande des Dorfes La Calzada, ein Jahr später siedelt er um. Und lernt ausgerechnet hier, auf der Flucht vor unliebsamen Bindungen, den Mann kennen, mit dem er für den Rest seines Lebens, 31 Jahre, zusammenbleibt. Dario Perez ist bildschön, gerade mal Anfang 20, als Krüss ihn bei einem Fest gemeinsamer Freunde kennenlernt. Der Kanarier hat eine klassische Ballettausbildung, doch er gibt seinen Plan, Tänzer zu werden, auf, um mit Krüss zusammenzuleben. Offiziell ist er Haushälter eines wohlhabenden Mannes. 

     Hier, in dem Dorf, das ihn herzlich aufnimmt und sich um sein Liebesleben nicht schert, blüht er auf. Er lässt eine Straße asphaltieren, stiftet einen Spielplatz, spendet für die Armen. „James kümmerte sich rührend um die Nachbarn und wurde von ihnen geliebt“, sagt die Sängerin Katja Ebstein, die mit ihm befreundet war. „Er hat sich da eine neue Familie gebaut.“

     Perez sorgt für Ordnung im Haus, erledigt den Papierkram, er wacht eifersüchtig über „Don Jaime“, wie der Schriftsteller im Dorf genannt wird. Und er kocht für opulente Feiern, denn Krüss empfängt gern und viel Besuch. Silvester feiert er jedes Jahr mit mal 100, mal 200 Gästen – alle Dorfbewohner lädt er ein, Freunde von Helgoland, und immer wieder sind Kollegen aus Buch- und Showgeschäft bei ihm zu Gast: Katja Ebstein, Justus Frantz, Hans Clarin, Heidi und Friedrich Oetinger und Janosch, der sich in den 80ern auf der Nachbarinsel Teneriffa niederlässt.

     Doch trotz aller Feierfreude ist er ein Arbeitstier. Jeden Morgen steigt er die steile Treppe hoch in sein Atelier. Rund 40 Quadratmeter, die er sich auf das weiß getünchte, eingeschossige Haus einfach draufbauen lässt, mit einem schmalen Schreibtisch am Fenster und unzähligen Büchern. Oft trägt er seinen dreibeinigen Hund mit rauf, einen Streuner, der die Stufen allein nicht schafft. Krüss, der sieben Sprachen spricht, übersetzt auch und zeichnet.

     Nie betont er, dass er auch ein „richtiger“ Schriftsteller sei. Im Gegenteil, er schimpft über die „grenzenlose Missachtung“ von Kinderbuchautoren und dichtet: „Gefragt wie ich denn / Verse schreiben könne, / Da doch in Teheran und Bagdad Krieg, / In Chile Mord, / In Pandschab Aufruhr herrsche, / Antworte ich: / Da keine Not mich zwingt, / Am Waffenschmieden / Brauchbar für den Krieg / Und für Tyrannenfreunde / Teilzunehmen, / Nehm ich des Dichters / Schönes Vorrecht wahr / Und schmiede Verse, / Brauchbar für den Frieden.“ Er ist davon überzeugt: Literatur, auch heitere, kann die Welt verändern und die nächste Generation zu einer besseren machen. 

     In den 80er Jahren kommt ihm seine Heiterkeit zeitweise abhanden. Die Stufen in seine Schreibstube hinaufzuklettern wird mühsam. Nach einem Herzinfarkt 1984 muss er operiert werden, später kommt Parkinson dazu. Nach außen gibt Krüss sich munter und schreibt in die alte Heimat: „Liebe Freunde und Verwandte / Liebe Leser und Bekannte / Ein bescheid’ner Herzinfarkt / Hat mich zwar nicht eingesargt; / Aber Herz und Hand sind recht / Mitgenommen und geschwächt.“ 

     Am Ende ist es nicht das Herz, sondern sein großer, sein einst so genialer Kopf, der den Abschied des Schriftstellers vorbereitet. In den letzten zwei Jahren vor seinem Tod wird Krüss dement. Doch als er am

2. August 1997 an Altersschwäche stirbt, dürfte sich erfüllt haben, was er schon fast 40 Jahre vorher geschrieben hatte, ein Wunsch, wie sein Lebensende einmal aussehen sollte: „Ich habe / Viel Geliebt in meinem Leben. / Ich wurde / Viel geliebt. / Die Rechnung stimmt. / So starb ich heiter.“ Als seine Asche am  27. September vor Helgoland beigesetzt wird, müssen zwei Boote rausfahren, damit all die dabei sein können, die ihn liebten.