mare No 166, Oktober/November 2024

 

 

Edvard Munch in Warnemünde

1907 zog der Maler Edvard Munch für fast anderthalb Jahre nach Warnemünde, um seine Nerven zu kurieren. Der Norweger trank und litt unter Ängsten und Halluzinationen. Und auch ein wichtiges Gemälde aus dieser Zeit sorgte für Aufregung

 

 

Als die nackten Kerle von der Ostsee in den Hamburger Kunstsalon Clematis einziehen, sperrt man sie flugs in den Keller. Die Betreiber, das Ehepaar Heldt, befürchten, sie könnten das Publikum entsetzen, sogar die Polizei auf den Plan rufen. Das Bild der Entblößten, die Edvard Munch in seinem gut mannshohen Gemälde „Badende Männer“ zeigt, wirke zu „brutal“ in seiner „Ungeschminkt­heit“. „Merkwürdig, merkwürdig“, schreibt sein Förderer, der Hamburger Richter Gustav Schiefler, dem norwegischen Maler, „an nackten Frauen findet man nun nichts Anstößiges mehr. Man steht in Gesellschaft anderer Frauen davor und unterhält sich darüber.“ Über­haupt: „So etwas Starkes haben Sie noch nicht gemalt. […] Mir war es, als wenn ich einen Rippenstoß kriegte.“

Auch das reale Vorbild einer der zwei Figuren im Vordergrund des Gemäldes – wahrscheinlich der Warnemünder Bademeister, den Munch wohl mit einem weiteren Mann für sein Werk angeheuert hatte – soll zu spüren bekommen haben, wie sehr unverhüllte Männlichkeit die Menschen schockierte. Bis heute erzählt man sich in dem Seebad, der Bademeister sei deswegen entlassen worden, so die Kunsthistorikerin Petra Schmidt-Dreyblatt, Warnemünderin und Mitgründerin des Edvard-Munch-Hauses in dem Rostocker Ortsteil. Aufzeichnungen darüber gebe es nicht, wahrscheinlich ist es aber schon. Auch am Strandabschnitt für die Männer, durch hohe Zäune getrennt von dem der Frauen, schreibt die Badeordnung damals Badehose oder -anzug vor, am Familienstrand gar „vom Halse bis zu den Knien“. Und dann kommt da dieser „Eduard Munch“ aus Norwegen – vorn mit einem Lendenschurz bedeckt, hinten blank – und stellt seine Leinwand am Strand auf, an dem sich sommers die feine Gesellschaft aus Rostock und Berlin erholt. Mit Munch sind ein Bergwerksbesitzer, eine Opernsängerin, ein Feldwebel und Eigentümer von Rittergütern angekommen, meldet der „Warnemünder Bade-Anzeiger“ am 7. Juni 1907. 

Vielleicht hätte man über die Gruppe hinwegsehen können, die vergnügt im Wasser planscht. Vielleicht sogar über den Mann im Profil, der rechts ins Bild hineinspaziert und wohl Munch selbst ist. Schließlich trieben Männer schon in der Antike nackt Sport, auch bei den Olympischen Spielen. Im Mittelalter stellten Ge­nies wie Michelangelo Männer nackt dar – auch wenn dessen „David“-Statue Königin Victoria 50 Jahre vor Munchs „Badenden“ so aus der Fassung brachte, dass das Victoria and Albert Museum den Penis mit ei­nem Feigenblatt aus Keramik verhängte. 

Und im Kaiser­reich? Da gibt es durchaus Künstler, die ähnliche Badeszenen malen, etwa Max Beckmann mit „Junge Männer am Meer“, nur zwei Jahre zuvor. Doch im Vergleich mit den selbstbewussten, kraftvoll anmutenden War­nemündern wirken die Jünglinge eher wie brave Hirten in Arkadien. Aber jetzt diese zwei breitbeinigen Männer, die sich den Betrachtern frontal präsentieren? Tourismuswerbung sieht anders aus. 

Der 43-jährige Munch, der zwischen Juni 1907 und Oktober 1908 mit Unterbrechungen in Warnemünde wohnt, ist Kritik gewohnt. Durch sie ist er in Kunstkreisen bereits eine Berühmtheit, gerade in Deutschland, wo er seinen Durchbruch hatte und seit Jahren lebt. Es ist nicht neu für ihn, dass Menschen aufgebracht sind, wenn sie seine Werke sehen, auf denen manchmal noch die Leinwand durchschimmert, dann wieder große Farbflächen kräftig leuchten, Kratzer und Pinselstriche deutlich zu sehen sind. „Du malst wie ein Schwein, Edvard“, schrieb ein Kollege nach seinem Debüt in Kristiania, wie Oslo damals hieß.

Seine erste große Schau in Berlin 1892 verursacht einen nie da gewesenen Aufruhr. Sie gilt als Beginn der Moderne in der Malerei in Deutschland, weil sie den Kunstbetrieb in zwei Lager spaltet: die Konservativen, die seine Werke als unfertig, als „anarchistische Provokation“ empfinden. Und die Progressiven wie Max Liebermann und Lovis Corinth, die sich bald darauf als „Berliner Secession“ vom akademischen Mainstream abspalten. „Hier gibt es […] jede Menge jämmerlicher alter Maler, die über die neue Richtung rasen. Die Zeitungen führen sich schrecklich auf“, schreibt Munch seiner Tante in Norwegen. Nach nur wenigen Tagen wird die Ausstellung geschlossen. Er nimmt es gelassen. „Bessere Reklame kann ich gar nicht haben.“

Da behält er recht. Auch wenn er immer wieder unter Geldmangel leidet, gewinnt er auch viele Unterstützer, die seinen Stil schätzen. Wohlhabende Männer wie der Industrielle Walther Rathenau, der Kaufmann Albert Kollmann und der Augenarzt Max Linde aus Lübeck lassen ihr Porträt vom ihm malen, der Theaterdirektor Max Reinhardt beauftragt ihn 1906 mit einer Reihe von Bühnenbildern für die Berliner Kammerspiele. Munch ist viel auf Reisen, zu Mäzenen und zu Ausstellungen, die er nun in ganz Deutschland hat. Allein 1907 sind es 13 – von Berlin bis Wuppertal.

Aber der Druck setzt dem Maler auch zu. Schon länger kämpft mit seinen Dämonen, die er zugleich für essenziell für seine Kunst hält. Munch malt nicht, was er sieht, sondern, was er erlebt und durchlitten hat. Seine Mutter und eine Schwester sind früh an Tuberkulose gestorben, eine andere wird in die Psychiatrie eingeliefert, sein Vater gilt als „melancholisch“. Über sich selbst schreibt er einmal: „Krankheit, Wahnsinn und Tod hielten wie schwarze Engel Wache an meiner Wiege. Sie haben mich durch mein ganzes Leben begleitet.“ Es entstehen, oft in mehreren Varianten, Bilder, die innere- oder Beziehungsdramen zeigen: eine Familie, die sich um ein Sterbebett versammelt, ein krankes Kind mit einer verzweifelten Mutter, blasse Menschen mit totenkopfhaften Gesichtern in Kristiania und das ikonischste aller Munch-Bilder, dessen Motiv sich heute auf Socken in Museumsshops von Warnemünde bis Washington findet: „Der Schrei“.

Depressionen und Stress bekämpft er mit Alkohol. „Lassen Sie das viele Saufen“, rät Max Linde. Immer häufiger suchen ihn seine Freunde in Berlin tagelang. 1906 findet Auftraggeber Schiefler den Maler „in trostlosem Zustande im Bett, eine halbe Flasche Wein steht auf dem Nachttischchen“. Auch unter der dramatischen Trennung von seiner Geliebten Tulla Larsen 1902 leidet Munch noch Jahre später. „Seit der Sache mit Tulla bin ich mit leckgeschlagenem Schiff unter Vollzeug gesegelt“, fasst er seine Situation zusammen. Und beschließt, dass er Ruhe braucht, am besten am Meer. In Norwegen besitzt er bereits ein einfaches Fischerhaus in Åsgårdstrand südlich von Kristiania. Das mecklenburgische Warnemünde erinnert ihn an diesen Ort, er ist hier mehrmals mit der neuen Eisenbahnfähre aus Skandinavien angekommen und von hier nach Berlin, Hamburg und Lübeck gefahren. Warnemünde ist weit genug weg vom Berliner Großstadttrubel und nah genug an seinen Förderern und den Ausstellungsmachern in Deutschland. „Ich hoffe, dass das Meer mich jetzt restaurieren wird“, schreibt Munch.

Und er scheint sich tatsächlich zu erholen. „Frische Luft und gute finanzielle Bedingungen haben große Dinge vollbracht“, berichtet er dem Sammler Ernest Thiel. „Es geht mir viel besser, ich lebe seit dem Sommer von Haferschleim, Milch, Brot und Fisch... Nun bin ich wie neugeboren.“ Er ist in das Haus des Lotsen Carl Nielsen in der Straße Am Strom 53 eingezogen, freundet sich mit dem Vermieter an, arbeitet weiter für Max Reinhardt und malt Porträts für wohlhabende Auftraggeber. Auch viele Bilder des Zyklus „Das grüne Zimmer“ entstehen hier und mit ihnen wieder ein Skandälchen. Denn damit er das Modell Rosa Meissner malen kann, lässt auch sie die Hüllen fallen, und das verbietet Munchs Haushälterin umgehend. Dafür muss er sich ein Zimmer im Hotel Rohn mieten. Dort entsteht ein Foto, das ihm später als Vorlage für „Weinendes Mädchen I“ dient, eines der Bilder aus dem Zyklus, in dem immer wieder ein rautenförmiges, grünes Tapetenmuster auftaucht.

Munch ist begeistert von der Fotografie, seit 1902 besitzt er eine Kodak-Kamera. Er experimentiert auch in Warnemünde damit, dokumentiert, teils mit Selbstauslöser seinen Aufenthalt und seine Malerei an der Ostsee: das Haus Am Strom 53, den Fluss Warnow, seine streng dreinblickende Haushälterin, und immer wieder sich selbst, etwa mit Hut und Jacke, neben ihm lehnen zwei Bilder an der Wand, die Kinder, den Lotsen Nielsen und den Birnbaum vor seinem Haus zeigen. Munch fotografiert sich auch selbst malend am Strand und einen der nackten Bademeister. Er experimentiert mit spiegelverkehrten Motiven und Doppelbelichtungen, so dass die Menschen auf den Fotos wie Geister wirken. Das hinterlässt Spuren in seiner Malerei – auch die Figur links unten in „Badende Männer“ ist fast durchsichtig, wie Munch selbst auf einigen seiner Selbstauslöser-Fotos.

In der Zeit in Warnemünde habe sich sein Stil stark weiterentwickelt, sagt die Kuratorin Trine Otte Bak Nielsen vom Munch-Museum in Oslo. „Er brachte nun kräftigere, breite Pinselstriche auf die Leinwand, teils direkt aus der Tube, das war neu. Manchmal sind sie fast horizontal aufgetragen wie in dem Bild ‚Amor und Psyche‘ von 1907, in ‚Badende Männer‘ schräg, was den Farbflächen eine starke, strukturierende Wirkung verleiht.“ In Warnemünde beginnt Munch zunehmend, sich malerisch der arbeitenden Bevölkerung zuzuwenden: Er zeigt einen Mechaniker, einen Maurer, Putzfrauen. Auch die „Badenden Männer“ gehören dazu.

Munchs Art, wie er mit breiten Strichen die Schienbeine und Füße der zwei Protagonisten im Vordergrund malt, inspiriert einen Karikaturisten später zu einer Zeichnung, die sie als Werbefiguren für englische Kniestrümpfe zeigt. Doch der Blick, mit dem der Maler auf sie schaut, ist ein bewundernder. Trotz ihrer Nacktheit wirken sie nicht lächerlich, sondern souverän und vital. Sie leuchten geradezu, angestrahlt von der Sonne am Warnemünder Strand, schauen den Betrachtern geradewegs ins Gesicht. Vielleicht ist es auch das, was manche irritiert: Das Bild wirkt wie die Machtdemonstration einer Klasse, die um die Jahrhundertwende für ihre Rechte kämpft und deren politische Vertreter den Regierenden als „Reichsfeinde“ gelten. „Munch zeigt ‚Badende Männer‘ anders als die meisten anderen Maler zuvor ganz ohne mythologischen Kontext. Also nicht als schöne Götter, sondern als ganz normale Menschen“, sagt Nielsen.

Und noch eine gesellschaftliche Strömung seiner Zeit illustrieren die gesunden, starken Körper: den Vitalismus. Eine naturphilosophische Lehre, die als Reaktion auf die Industrialisierung auf die reinigende Kraft der Natur setzt, auf Sonnenbäder und Bewegung an der frischen Luft. Nie wieder, so Nielsen, habe Munch so vitalistisch gemalt wie in diesem Bild aus Warnemünde. Später will er ein fünfteiliges Bild daraus machen, das die verschiedenen Lebensphasen zeigt, fügt zwei Jungen zur Linken und zwei Greise zur Rechten hinzu.

Und natürlich malt Munch das Meer. Es gibt bereits Meeres-Bilder, die vorher in Åsgårdstrand entstanden sind. „Aber die Wellenbilder und -studien in Warnemünde wirken anders, eines mit seinen breiten Streifen fast abstrakt, auch das war eine neue Entwicklung“, sagt Nielsen. Neu ist, dass Munch an der Küste zum Freiluftmaler wird. Auf den „Badenden“ fanden Restauratoren später Sandkörner, die sich mit der Farbe vermischt haben.

Lange hält die Zeit am Meer, in der Munch sich wie neugeboren fühlt, nicht an. In seinem assoziativen Stil schreibt er: „Ich hatte dieses beängstigende Herzklopfen in der Brust Angst – Morgens – Schwindel wenn ich aufstand – Rasch etwas Beruhigendes – Läute – Portwein – eine halbe Flasche das half – schlucke dann Kaffee und etwas Brot – Wieder angsterfüllt – hinaus auf die Straße – zum ersten Restaurant – ein Schnaps – Zwei Schnäpse – Das half – hinaus auf die Straße – sicherer – Das kommt in Ordnung (…).“ Der Maler Hermann Hartmann-Drewitz beschreibt 1951 in der „Zeit“, wie er Munch 1908 allein in einer Warnemünder Bar angetroffen habe: „Mit dem Leonardoprofil seines energischen Kopfes und in seinem blauen Anzug mit einer siegelroten Krawatte würde er wohl einen flotten Eindruck gemacht haben, wenn nicht sein weltverlorener Blick, seine verschleierten Augen, sowie seine meist ungekämmten Haare eigentümlich davon abgestochen hätten.“ Munch habe ihm auch erzählt, wie er einmal aus Ärger über einige Männer, mit denen er über eine Versicherungsangelegenheit sprach, aufgesprungen sei und diese „angedonnert“ hätte: „Wissen Sie, wer die dümmsten Menschen von der Welt sind? Das seid ihr Mecklenburger!“

In dem Seebad fühlt Munch sich nicht mehr wohl, findet es „furchtbar bürgerlich“, leidet zunehmend unter Verfolgungswahn. Nachdem er im März 1908 seinem Vermieter tot aufgefunden hat, ist das Haus Am Strom nicht mehr geheuer. Er zieht ein paar Häuser weiter, und im Sommer verlässt er Warnemünde für immer, um sich in einer Nervenklinik in Kopenhagen behandeln zu lassen. In seinem Tagebuch schreibt er darüber: „Anderntags reise ich mit der Fähre hinüber zur dänischen Fährstelle – Was fühlte ich mich erleichtert als die Fähre auslief – Ich befürchte eine Verhaftung – Dort verschwand die lange Reihe – Warnemünde – Die Fähre glitt hinaus – Die kleinen Häuser wurden immer kleiner – Nun bin ich in Sicherheit – Doch was nun.“

Nach diesem fast fluchtartigen Aufbruch und rund einem halben Jahr in der Nervenklinik kehrt Munch nach Norwegen zurück. Die Warnemünder Bilder werden nachgeschickt. Doch haben will man die „Badenden Männer“ auch hier nicht. Als Munch bei einer Verkaufsausstellung im Auktionshaus Blomqvist 1909 Werke präsentiert, kauft das Nationalmuseum mehrere, nicht aber die nackten Männer. Sie waren wohl auch für das norwegische Publikum zu gewagt, meint Trine Otte Bak Nielsen. Zwei Jahre später finden sie endlich eine Heimat. Das Kunstmuseum Ateneum in Helsinki kauft das Bild für 10000 Finnische Mark, was heute etwa 48000 Euro entspricht. Auch hier geben sie Anlass zur Diskussion, doch die verläuft weniger aufgeregt als in Deutschland, es geht eher um den hohen Preis und darum, ob junge Künstler von Munchs radikaler Malweise beeinflusst werden könnten.

Später ist eine zweite Version der „Badenden Männer“ dann doch noch in Munchs Heimat gekommen, von der er sich lange verkannt fühlte. Sie hängt heute in einem 60 Meter hohen Museum mit 13 Stockwerken am Fjord, das nur ihm gewidmet ist und fast 28000 seiner Werke hütet. Auf einem Platz in der Nähe wächst ein kleiner Birnbaum, den sie 2021 aus Warnemünde geschickt haben, ein Ableger des Baums vor dem Munch-Haus, den der Maler in einem seiner Warnemünder Bilder verewigt hat. Und im Sommer springen gleich gegenüber Badende in den Fjord.